Brennende Bücher

Kehl und Straßburg sind Städte des Buches: 25 Auszüge aus verbrannten Werken vorgelesen

René Schickele, Bertha von Suttner, Erich Maria Remarque, Irmgard Keun, Henri Babusse, Ernst Toller, Honoré de Balsac, Sidonie Gabrielle Colette, Heinrich Mann, Anna Blos, Bertold Brecht, Ludwig Quidde, Christa Brück, Joseph Roth, Adelheid Popp, Heinrich Heine und Erich Kästner teilen bei aller Unterschiedlichkeit eine tragische Gemeinsamkeit: Ihre Bücher wurden während der Nazi-Diktatur öffentlich verbrannt oder verboten – in Deutschland wie im besetzten Elsass, in Kehl und in Straßburg. Am Samstag (27. April) lasen Straßburgerinnen und Kehler, Straßburger und Kehlerinnen auf dem Kehler Marktplatz fünf Stunden lang aus Werken dieser verfolgten Autorinnen und Autoren – vor einem großen und ausdauernden Publikum. Die vom Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau geförderte Veranstaltung war offizieller Teil der Eröffnungswoche von Straßburg UNESCO Welthauptstadt des Buches.

Mit einer im Design der UNESCO Welthauptstadt des Buches gestalteten Tram sind die Straßburger Oberbürgermeisterin Jeanne Barseghian (links) und die Präsidentin der Eurométropole de Strasbourg, Pia Imbs (ganz rechts) am Samstag in Kehl angekommen. Empfangen wurden sie sowie die sie begleitenden Beigeordneten, Anne Mittler, Anne-Marie Jean und Marina Lafay, von Oberbürgermeister Wolfram Britz.

„Das Buch gehört eindeutig zu den verbindenden Elementen“ im rheinüberschreitenden Lebensraum, sagt Oberbürgermeister Wolfram Britz in seiner Rede zur Eröffnung der Veranstaltung. „Kehl und Straßburg sind Städte des Buches“, konstatiert seine Straßburger Amtskollegin Jeanne Barseghian vor Beginn der Lesung. Dass Straßburg nun ein Jahr lang Welthauptstadt des Buches sei, eröffne den beiden Städten neue Möglichkeiten der Kooperation und der Begegnung der Einwohnerinnen und Einwohner. Dazu gehöre es auch, sind sich die beiden Stadtoberhäupter einig, sich mit den dunklen Kapiteln der Geschichte zu beschäftigen, weil diese auch Mahnung für die Gegenwart und Zukunft sind.

Bücher würden von Diktatoren und Autokraten als gefährlich erachtet, weil sie den Geist öffneten, weil sie Leserinnen und Lesern andere Denkweisen und andere Blickwinkel auf die Welt eröffneten und den kritischen Geist formten, sagt Jeanne Barseghian und Wolfram Britz verweist darauf, dass die Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten, auf Schriftstellerinnen und Schriftsteller in den vergangenen Jahren „in einem erschreckenden Maße zugenommen“ haben, „während die Toleranz, von eigenen Ansichten abweichende Meinungen zuzulassen, in einem Teil der Bevölkerung sinkt“. Er nennt Zahlen: Reporters sans Frontières meldeten für 2022 einen traurigen Rekord – 533 Journalistinnen und Journalisten wurden inhaftiert, 57 getötet, 65 als Geiseln genommen, 49 gelten als vermisst. Die Autorenvereinigung PEN verzeichne 68 getötete oder bedrohte Autorinnen und Autoren.

Die Bücher, aus denen am Samstag gelesen wird, werden im Anschluss in den blauen Bücherschrank auf dem Marktplatz gestellt und können dort ausgeliehen werden. Die Veranstaltung findet in Kooperation mit dem Arbeitskreis 27. Januar statt und wird vom Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau ebenso kofinanziert wie das komplette grenzüberschreitende Programm zur UNESCO Welthauptstadt des Buches.

Pia Imbs, die Präsidentin der Eurométropole de Strasbourg eröffnet die Lesungen mit einem Text aus René Schickeles Werk „Wir wollen nicht sterben“, bevor Wolfram Britz aus „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque vorträgt und Jeanne Barseghian aus „Le feu. Journal d’une escouade“ von Henri Barbusse liest. Es folgen 22 weitere Lesungen von Einwohnerinnen und Einwohnern aus dem rheinüberschreitenden Lebensraum. Jede Autorin und jeder Autor sowie die Werke, die gelesen werden, stellen die Moderatorinnen Carmen Anton und Christiane Wächter dem auf dem Marktplatz so zahlreich versammelten Publikum vor, dass die vorbereiteten Stühle nicht ausreichen. Während ein Teil der Zuhörerinnen und Zuhörer vom Nachmittag bis in die Abendstunden wechselt, genießt es ein anderer, über fünf Stunden hinweg aus den unterschiedlichsten Werken Textpassagen oder Gedichte vorgelesen zu bekommen.
Musikalisch umrahmt wird die Veranstaltung vom Duo Convergences mit Ellen Oertel am Piano und Marius Stoian an der Violine.

Verbrannte Bücher zum Ausleihen

Die Bücher, aus denen am Samstag gelesen wurde, haben die Vorleserinnen und Vorleser in den Bücherschrank (Bücherwurm) auf dem Marktplatz gestellt. Sie können dort ausgeliehen werden.

Die Bauzaunbanner, mit Erklärungen zur Bücherverbrennung in Kehl und im Elsass sowie mit Namen von Autorinnen und Autoren, deren Bücher von den Nazis ins Feuer geworfen und aus Bibliotheken entfernt wurden, sind noch bis einschließlich 5. Mai auf dem Marktplatz zu sehen. Die Aufzählung der Schriftstellerinnen und Schriftsteller ist nicht vollständig – selbst ein Bauzaunbanner reicht nicht aus, um alle Autorinnen und Autoren zu nennen, deren Werke im sogenannten Dritten Reich verboten waren.

Eindrücke von der Veranstaltung Brennende Bücher - Livres en neu

Straßburg: Welthauptstadt des Buches

Straßburg ist UNESCO Welthauptstadt des Buches. Zum Veranstaltungsreigen, der ein ganzes Jahr dauert, gehört auch ein grenzüberschreitendes Programm, das am Samstag mit einer Lesung aus während der Nazi-Diktatur verbrannten Bücher beginnt.

Am Welttag des Buches, am 23. April, hat Elisabeth K. T. Sackey, Bürgermeisterin von Accra, der Hauptstadt von Ghana und Welthauptstadt des Buches 2023, die Flamme der Lektüre in Form einer kleinen Skulptur an die Straßburger Oberbürgermeisterin Jeanne Barseghian übergeben. Ein Jahr lang trägt Straßburg nun diesen Titel und will ihm mit mehr als 1000 Veranstaltungen gerecht werden. Mitgestaltet wurde die fast dreistündige Feier, an der auch Ernesto Ottone, stellvertretender Kulturdirektor der UNESCO teilnahm, von Autorinnen und Autoren sowie von Künstlerinnen und Künstler, die allesamt aus eigenen oder fremden Werken lasen und damit zur aktuellen Weltlage Stellung bezogen: Mehrfach wurde Victor Hugo (geboren 1802, gestorben 1885) zitiert, der bereits zu seiner Zeit von den vereinigten Staaten von Europa träumte – ein Wunsch, der sich bis heute nicht erfüllt hat. Krieg und der Frieden, also die Zwischenzeit zwischen den Kriegen, Flucht, Vertreibung, Exil sowie die Hoffnung auf ein besseres Leben waren die Hauptthemen, die in literarischer Form angesprochen wurden.