Grenzkontrollen

Grenzkontrollen: Europaabgeordnete setzen auf europäische Lösung

Kontrollen an den Außengrenzen der Europäischen Union anstatt im Binnenland: Zumindest die Europaabgeordneten, die sich am Montagnachmittag (7. Juli) mit Oberbürgermeister Wolfram Britz unterhalten haben, würden diese den Kontrollen an den Binnengrenzen – wie an der Kehler Europabrücke – deutlich vorziehen. „Kehl hat das Risiko, als Brennpunkt wahrgenommen zu werden, für Feuer, die gar nicht in Kehl brennen“, fand Andreas Schwab (CDU) deutliche Worte. Die Kontrollen in der derzeitigen Form „sind relativ nutzlos und greifen die mühsam errungene grenzüberschreitende Freundschaft an“, erklärte Erik Marquardt (Grüne). Am Mittwoch melden sich die SPD-Europaabgeordneten Professor Dr. René Repasi und Vivien Costanzo mit einem Schreiben bei OB Britz.

Auch Europaabgeordnete stecken auf der Europabrücke im Stau: Derzeit findet im Europaparlament die zweite Sitzungswoche seit der Verschärfung der Grenzkontrollen durch die neue Bundesregierung am 8. Mai statt. Viele der deutschen Mitglieder des Europäischen Parlaments übernachten – wie auch ihre Mitarbeitenden – von jeher auf der deutschen Rheinseite. Bei der Rückkehr reihen auch sie sich in die mehr oder weniger langen Warteschlangen auf der Europabrücke ein.
Aber nicht nur das: Eben weil die Europaabgeordneten während der monatlich stattfindenden Sitzungszeiten ein grenzüberschreitendes Leben führen, entwickeln sie ein Gespür für das Lebensgefühl im rheinübergreifenden Ballungsraum Straßburg-Kehl.

Der CDU-Europaabgeordnete Andreas Schwab (links) hat im Austausch mit Oberbürgermeister Wolfram Britz zu den Grenzkontrollen an der Europabrücke deutliche Worte gefunden.

Andreas Schwab, der seit 2004 Europaabgeordneter für den Regierungsbezirk Freiburg ist, sieht in den verschärften Grenzkontrollen trotz aller Bemühungen für die Sicherheit auch „abschreckende Effekte, weil sich die Leute nicht mehr darauf verlassen können, dass sie hier ein grenzüberschreitendes Leben führen können“. Damit trifft er genau den Punkt, der auch Oberbürgermeister Wolfram Britz beschäftigt: „Wie verlässlich ist Politik?“ Er habe eigentlich darauf gehofft, dass die neue Koalition Sachpolitik machen würde „und es nicht nur darum geht, Bilder zu erzeugen“. Er betont noch einmal, dass er nicht generell gegen Grenzkontrollen ist: Damit lebe man im rheinübergreifenden Ballungsraum schon seit der Fußball-Europameisterschaft und der Olympischen Spiele im vergangenen Sommer. Bis zum 8. Mai sei so kontrolliert worden, dass das grenzübergreifende Alltagsleben nur in Ausnahmefällen beeinträchtigt worden sei.

Wolfram Britz berichtet Andreas Schwab (wie auch später Erik Marquardt und Anna Cavazzini, ebenfalls Grüne) von den E-Mails, die er bekommt: von Kehlerinnen und Kehlern mit französischem Pass, die sich überlegen, wieder auf die Straßburger Rheinseite umzuziehen, wenn die Grenzkontrollen in dieser Form weiter anhalten, von Speditionsunternehmen, die weite Umwege fahren, um nicht auf der Europabrücke im Stau zu stehen, und damit Tausende zusätzliche Lkw-Kilometer zurücklegen. Von Schülerinnen und Schülern, die auf der jeweils anderen Rheinseite zur Schule gehen und in der Tram kontrolliert werden – vor allem auch, wenn sie eine dunklere Hautfarbe haben. Sowie von Pendlerinnen und Pendlern, welche die Ortenau-S-Bahn für ihren Arbeitsweg nutzen und wegen der Kontrollen ebenso mit bis zu 15 Minuten Verspätung rechnen müssen wie Reisende, die in Offenburg einen ICE-Anschluss erreichen möchten.

Für den langjährigen Europaabgeordneten Andreas Schwab ist eindeutig, dass die EU-Außengrenzen besser geschützt werden müssen. „Das ist eigentlich beschlossen; jetzt muss auch Deutschland alles dafür tun, dass dies umgesetzt wird.“ Weil jeder Verstoß gegen das Asylverfahrensgesetz oder das Ausländerrecht, den die Bundespolizei an der Europabrücke feststellt, in die Kehler Kriminalstatistik einfließt und die sogenannte Häufigkeitsziffer (Straftaten umgerechnet auf 100 000 Einwohner) in die Höhe treibt, will er sich für „eine saubere Analyse“ einsetzen, „damit Kehl nicht Delikte zugeordnet werden, die hier gar nicht stattfinden“. Während der Corona-Pandemie habe er sich dafür eingesetzt, dass Grenzpendler einen QR-Code bekommen, der das Passieren der Grenze erleichtert. „Das ist ein kleiner Schritt zur Vereinfachung der Entsendebescheinigung – aber immerhin“.

Die SPD-Europaabgeordnete Vivien Costanzo hat OB Britz nach ihrem Brief zu einem persönlichen Gespräch im Rathaus aufgesucht.

Die beiden Grünen-Abgeordneten wollen Antworten auf strategische Fragen einfordern, also dargestellt bekommen, was die Grenzkontrollen können und was nicht. Außerdem wollen sie wissen, welche Aufgaben die Bundespolizei nicht mehr übernehmen kann, seit die Kontrollen an den deutschen Grenzen verschärft wurden: „Sind die effektiver als die Kontrollen am Frankfurter Hauptbahnhof?“ fragt Erik Marquardt. Wie für OB Wolfram Britz und Andreas Schwab sind auch die „Kosten für das deutsch-französische Verhältnis“ ein Thema für ihn. Diese Folgen werde man, ist sich Wolfram Britz sicher, analog zur Grenzschließung und dem Einkaufsverbot für Grenzpendler während der Corona-Pandemie, erst mit Verzögerung spüren.

Am Mittwoch (9. Juli) geht ein Schreiben der SPD-Europaabgeordneten Professor Dr. René Repasi und Vivien Costanzo im OB-Büro ein, in dem diese versichern, dass auch sie sich dafür einsetzen, „dass der Bundesinnenminister die temporäre Einführung der Binnengrenzkontrollen wieder aufhebt“. Für die SPD-Europaabgeordneten stehe fest, „dass wir die Errungenschaften des grenzenlosen Europas erhalten und für noch mehr Menschen erfahrbar machen wollen“, schreiben sie. Und weiter: „Denn nicht die Abgrenzung macht uns stark, sondern die Begegnung von Menschen über Grenzen hinweg.“

Wegen der verschärften Grenzkontrollen: Jeanne Barseghian und Wolfram Britz wenden sich an Brigitte Klinkert

Weil der Leidensdruck aufgrund der verschärften Grenzkontrollen im Ballungsraum Straßburg-Kehl wächst, haben sich Jeanne Barseghian, Oberbürgermeisterin von Straßburg, und ihr Kehler Amtskollege Wolfram Britz zum 40. Jahrestag des Schengener Abkommens in einem Brief nun auch an Brigitte Klinkert gewandt. Die Elsässerin ist Abgeordnete in der französischen Nationalversammlung und Mitglied des grenzüberschreitenden Ausschusses, der aus dem Aachener Vertrag hervorgegangen ist. Sie hat im Rahmen ihrer parlamentarischen Arbeit zudem einen detaillierten Bericht verfasst, in dem die Probleme von Einwohnerinnen und Einwohnern, Unternehmen, Einrichtungen und Gebietskörperschaften in allen Grenzregionen Frankreichs analysiert werden.

Wegen der fortdauernden, verschärften Grenzkontrollen zwischen Straßburg und Kehl schreiben die Straßburger Oberbürgermeisterin Jeanne Barseghian und ihr Kehler Kollege Wolfram Britz an die elsässische Abgeordnete Brigitte Klinkert.

In ihrem gemeinsamen Brief berichten die beiden Stadtoberhäupter der Abgeordneten von den Auswirkungen der von der neuen Bundesregierung angeordneten verschärften Grenzkontrollen auf die Einwohnerinnen und Einwohner, aber auch den Einzelhandel und die Wirtschaft im grenzüberschreitenden Ballungsraum Straßburg-Kehl mit den beiden großen Rheinhäfen. Sie bitten – nachdem das gemeinsame Schreiben an Bundeskanzler Friedrich Merz bislang ohne Antwort geblieben ist – Brigitte Klinkert darum, sich über den deutsch-französischen Ausschuss dafür einzusetzen, dass die Intensität der Kontrollen auf das Maß zurückgenommen wird, welche diese vor dem 8. Mai hatten.

Jeanne Barseghian und Wolfram Britz berichten der Abgeordneten von den ganz konkreten Alltagsproblemen der Menschen im rheinübergreifenden Lebensraum: also von Arbeitswegen, für die deutlich mehr Zeit eingeplant werden muss – unabhängig davon, ob man mit dem Auto oder im öffentlichen Nahverkehr unterwegs ist. Sie geben weiter, was sie von Familien erfahren, deren Mitglieder auf beide Städte verteilt sind, von pflegenden Angehörigen, die bis zu 45 Minuten auf der Europabrücke im Stau stecken, von Kindern und Jugendlichen, die sich auf dem Schulweg plötzlich ausweisen müssen.

Darüber hinaus zeigen sie auf, dass die Grenzkontrollen sinkende Umsätze für den Einzelhandel auf beiden  Rheinseiten bedeuten und zusätzliche Kosten für die Wirtschaft: Für Spediteure, die ihre Waren pünktlich bei den Kunden abliefern müssen, summieren sich die für die die Umwege über die Grenzübergänge Pflimlin-Brücke oder Gambsheim-Freistett anfallenden Kilometer bereits auf viele Tausend.
 
 
 

Das Abkommen von Schengen

Im Sommer 1985 trafen sich Vertreterinnen und Vertreter von Belgien, Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland, der Niederlande und Luxemburgs im luxemburgischen Städtchen Schengen. Sie wollten die Grenzen zwischen den Nachbarländern schrittweise abschaffen, um den freien Personen- und Warenverkehr in Europa zu erleichtern. Am 14. Juni 1985 wurde das Schengener Abkommen unterzeichnet.
Über die Jahre sind immer mehr Länder dem Schengen-Raum beigetreten; derzeit sind es 29 Mitgliedsstaaten.

Quelle: Die Bundesregierung
 

Vielfältige Folgen der Grenzkontrollen: Passantenzahl in der Fußgängerzone reduziert sich deutlich

Fünf Wochen ist es her, dass die neue Bundesregierung die Grenzkontrollen zwischen Straßburg und Kehl deutlich verschärft hat. Die Folgen für das grenzüberschreitende Miteinander sind beträchtlich: Die Passantenzahlen in der Fußgängerzone sind deutlich zurückgegangen; die Klagen, die bei der Stadtverwaltung eingehen, mehren sich. Eine Antwort auf den Brief, den Oberbürgermeister Wolfram Britz gemeinsam mit seiner Straßburger Amtskollegin Jeanne Barseghian an Bundeskanzler Merz geschrieben hat, liegt noch nicht vor.

Oberbürgermeister Wolfram Britz wird von ZDF-Redakteur Anton Jany zu den seit dem 8. Mai geltenden verschärften Grenzkontrollen interviewt. Der Beitrag wird im Heute-Journal gesendet.

Die intensivierten Grenzkontrollen wirken sich auf fast alle Lebensbereiche aus.

Arbeiten

Grenzpendler müssen deutlich mehr Zeit für ihren Arbeitsweg einplanen; für Autofahrer, die über die Europabrücke kommen, gibt die Bundespolizei die Wartezeiten mit zehn bis 45 Minuten an. Das gilt auch für Pendler, welche die Ortenau-S-Bahn/den TER zwischen Straßburg und Offenburg nutzen, weil durch die Kontrollen im Kehler Bahnhof Verspätungen von bis zu 15 Minuten entstehen.

Wirtschaft

Bei Oberbürgermeister Wolfram Britz melden sich Unternehmerinnen und Unternehmer, die fürchten, die für sie so wichtigen und geschätzten Fachkräfte aus Straßburg und Umgebung zu verlieren, wenn die intensiven Kontrollen längere Zeit andauern. Spediteure, die gerade in unserm Ballungsraum unterwegs sind, also beispielsweise Waren zwischen dem Straßburger und dem Kehler Hafen transportieren, stellen es ihren Lkw-Fahrern frei, ob sie sich auf der Europabrücke in den Stau begeben oder den Umweg über die Pflimlin-Brücke oder den Grenzübergang Gambsheim-Freistett fahren. Dadurch sind allein bei einer Spedition in Kehl für die gesamte Lkw-Flotte in den vergangenen fünf Wochen mehrere Tausend zusätzliche Kilometer zusammengekommen – was für den Grenzraum auch eine zusätzliche Luftbelastung bedeutet.

Auch Antonin Margowski berichtete dem Fernsehteam, wie die Grenzkontrollen sein Leben beeinträchtigen. Er wohnt in Straßburg und arbeitet beim städtischen Betriebshof.

Mobilität

Wenn die Tram durch die Kontrollen an der Haltestelle Bahnhof aufgehalten wird, wirken sich die Verspätungen entlang der Linie D durch die gesamte Straßburger Innenstadt aus. Für die Fahrer verkürzt sich die Pause an der Endhaltestelle Rathaus. Wer die Ortenau-S-Bahn nutzt, muss – selbst, wenn er in Kehl startet – früher losfahren, wenn er sicher sein will, dass er in Offenburg einen Fernzug erreichen kann.

Einzelhandel

Die Besucherfrequenz in der Fußgängerzone (gemessen über offenes WLan von Handybesitzerinnen und -besitzern) ist seit der Intensivierung der Grenzkontrollen deutlich zurückgegangen. So wurde an der Zählstelle auf Höhe der Stadtapotheke seither die 15 000er-Marke nicht mehr erreicht. Ein Beispiel: Am Samstag, 3. Mai, bewegten sich dort 21 000 Personen; am 7. Juni waren es 11 500.

Privatleben

In Kehl leben mehr als 3000 Einwohnerinnen und Einwohner mit einem französischen Pass. In Straßburg wohnen – Schätzungen zufolge – mehr als 5000 Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Dabei handelt es sich nicht selten um deutsch-französische Familien, die auch Angehörige auf der jeweils anderen Rheinseite haben. Die Grenzkontrollen erschweren gegenseitige Besuche und werden dann zu einer erheblichen Belastung, wenn beispielsweise die Eltern unterstützt oder gepflegt werden.
Außerdem pendeln täglich ein paar Hundert Schülerinnen und Schüler auf die jeweils andere Rheinseite. Auch die Kinder und Jugendlichen werden in der Tram kontrolliert und müssen sich ausweisen können. Für einige von ihnen sind diese Kontrollen eine unangenehme Erfahrung – die sie bislang (von der Corona-Pandemie abgesehen) nicht kannten. Viele Eltern möchten ihren Kindern keinen Ausweis mitgeben, aus Furcht, dass dieser im Schulalltag verloren geht.