Evakuierung 1944

Als alle Kehlerinnen und Kehler zu Flüchtlingen wurden

Während Straßburgerinnen und Straßburger der Befreiung durch die Alliierten und die zweite französische Panzerdivision entgegenfieberten und ein wagemutiger Soldat die Trikolore auf die Münsterspitze pflanzte, wurden Kehlerinnen und Kehler von den Nazi-Oberen aufgefordert, ihre Stadt schnellst möglich zu verlassen. Und so wurden am 23. November 1944 alle  Kehlerinnen und Kehler innerhalb weniger Stunden zu Flüchtlingen.

Zwar rückte die Front von Westen immer näher und schon am 20. November drang ein beständiges "Grollen der Artillerieduelle" bis nach Kehl, dennoch lautete die offizielle Parole der Nazi-Oberen: "Jeder bleibt an seinem Platz und glaubt an den Endsieg. Wer Kehl verlässt oder Hab und Gut abtransportiert, steigert die Unruhe [...] und macht sich des Defaitismus schuldig",  wie Max Heuberger, Zeitzeuge und späterer Referatsleiter für Kriegs- und Besatzungsschäden im Landratsamt Kehl, rückblickend im Jahr 1963 feststellte. Die meisten Kehler hielten sich daran, trafen keinerlei Vorbereitungen zum Verlassen der Stadt und gingen noch am 23. November, dem Tag der Befreiung Straßburgs durch die Alliierten, wie gewohnt zur Arbeit. Viele fuhren morgens sogar noch mit der planmäßig verkehrenden Straßenbahn nach Straßburg.

Erst als sich im Lauf des Vormittags hunderte Flüchtlinge von der Rheinbrücke kommend in der Kehler Hauptstraße drängten und auch die Stadt selbst unter Feindbeschuss geriet, reagierte die Bevölkerung. Jetzt klingelte die Polizei an den Haustüren und forderte die Menschen auf, Kehl schnellstmöglich zu verlassen. Eilig beluden die meisten ihre Kinderwägen, Handkarren und Chaisen mit ihren Luftschutzkoffern und ein wenig Habe und machten sich zu Fuß auf, um irgendwo weiter östlich Unterschlupf zu finden. Längst hatte sich die Kreisleitung der NSDAP in das noch sichere Renchen abgesetzt.

Bis auf die wenigen, die in der Ortenau Verwandtschaft besaßen, wusste kaum jemand, wo er die nächste Nacht verbringen sollte. Während sich die Führung um ihre eigene Haut und die Sicherung von Wirtschaftsgütern sorgte, wurden die Kehlerinnen und Kehler einfach ihrem Schicksal überlassen. Seit Tagen hatte es geregnet, die Straßen waren verschlammt und die Kinzig war über die Ufer getreten – nicht zu Unrecht wurde später von einem "Elendszug" gesprochen, der sich zur Stadt hinaus bewegte. Wer hoffte, in den umliegenden Gemeinden unterzukommen, sah sich schnell getäuscht, denn auch hier mussten die Menschen ihre Häuser verlassen und anderswo Schutz suchen. [Bild 003]

Da Kehl jedoch erst am 15. April 1945 von den Alliierten besetzt wurde, kamen viele mit oder ohne Erlaubnis im Lauf der folgenden Monate für kurze Zeit zurück, um noch Kleidung und andere Versorgungsgüter, zum Teil auch Möbel, zu retten. Nach Kriegsende konnten die Bewohner der umliegenden Gemeinden sowie die Sundheimer und die Kronenhöfler wieder zurückkehren. Nicht zuletzt aus Sicherheitsgründen verweigerten jedoch die Franzosen  die Rückgabe des übrigen Gebietes. Tatsächlich modelten sie Kehl zu einer französischen Stadt um, schon auf den ersten Blick erkennbar an französischen Straßenschildern und Geschäftsnamen. Die ehemaligen deutschen Bewohner mussten noch lange in der Diaspora ausharren, bis im Washingtoner Abkommen von 1949 endlich entschieden wurde, dass Kehl nicht dauerhaft von Frankreich annektiert werden dürfe, sondern innerhalb von vier Jahren an die Deutschen zurückgegeben werden müsse.

Tatsächlich sollte es bis zum 8. April 1953 dauern, ehe das letzte Teilstück wieder in deutsche Hände überging. Bis dahin hatte es von Süden ausgehend in nordwestlicher Richtung bis an den Rhein 42 Teilfreigaben gegeben, bei denen jeweils der Stacheldraht eingerollt und wenige Straßen weiter wieder neu aufgebaut wurde. Auf die heimkehrenden Kehler warteten oft demolierte oder weitgehend zerstörte Häuser, die, wenn überhaupt, nur unter großen Anstrengungen wieder aufgebaut beziehungsweise saniert werden konnten. Viele fühlten sich von der Bundes- wie Landesregierung im Stich gelassen und ungerecht behandelt, da sie den Eindruck gewannen, allein die Lasten für den verbrecherischen Hitlerkrieg schultern zu müssen.

Wie aber erging es den Menschen in der Fremde? Wo kamen sie unter und wie waren die Bedingungen, unter denen sie diese "Zwangsumsiedlung" erlebten? Anhand von sechs persönlichen Schicksalen soll im Folgenden nachgezeichnet werden, welche Erfahrungen  die Betroffenen in dieser Zeit der Unsicherheiten gemacht haben.

Mit "Speckbildern" überlebt: Familie Gutekunst/Mannshardt

Brunhilde Mannshardt wurde am 1. August 1914 als Tochter des bekannten Malers Julius Gutekunst in Kehl geboren und lebte auch noch nach ihrer Verheiratung 1937 im elterlichen Haus in der Kinzigstraße 52. Im November 1942 wurde dort ihre Tochter Sieglinde geboren, mit der sie sich am 29. September 1944 auf die Flucht machen musste. Ab Februar 1945 begann sie Tagebuch zu schreiben und ihre Erlebnisse niederzulegen.

Über den 25. September 1944, als ein schwerer Luftangriff auf Straßburg auch Kehl in Mitleidenschaft zog, notierte sie: "Um unser Haus herum waren auch 5 Bomben gefallen. Wir haben nicht geglaubt, daß wir noch lebend zum Keller heraus kommen würden." Tatsächlich waren allein in einem Haus in der Nachbarschaft acht Tote zu beklagen. Ihr Vater drängte sie, trotz der offiziellen Durchhalteparolen, ihre Sachen zu packen und zusammen mit ihrem Kind die Stadt zu verlassen in der Hoffnung, dass Tochter und Enkelin auf dem Land sicherer untergebracht wären. Vier Tage darauf bestiegen die beiden mit leichtem Gepäck und Kinderwagen die Kleinbahn in Richtung Lahr. Sie gelangten unbeschadet nach Meißenheim, wo sie bei Freunden im Gasthaus zur Krone unterkamen. Julius Gutekunst, der mit der Wirtsfamilie befreundet war, da er auf seinen vielen Paddeltouren dort einkehrte, besuchte seine Tochter jedes Wochenende – bis er sich am 23. November 1944 selbst zusammen mit seiner Frau Emmi auf den Weg machen musste, überstürzt und zu Fuß mit Handkarren und Fahrradanhänger. Am Abend kamen sie völlig erschöpft in Meißenheim an und fanden Quartier, allerdings nur für kurze Zeit. Inzwischen konnte nämlich auch hier von Sicherheit keine Rede mehr sein, es gab Fliegerangriffe und der nahe Geschützdonner war deutlich zu hören. Deshalb verließ Brunhilde Mannshardt zusammen mit ihrer Tochter Meißenheim schon am 29. November, hoffend, dass sie in den Schwarzwaldbergen vor Fliegerangriffen besser geschützt sei. Allerdings wusste sie nicht, wo sie unterkommen konnte. Sie suchte daher die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) in Lahr auf, die für Flüchtlingstransporte zuständig war. Hier wurden die beiden zusammen mit anderen Kehler Frauen und Kindern in einen Lastwagen gesteckt, der sie nach Biberach transportierte. Von dort aus sollte es mit der Eisenbahn weitergehen, als Ziel war die Bodenseegegend avisiert. [Bild 005]Doch die zweijährige Sieglinde vertrug die Fahrt überhaupt nicht und musste sich unterwegs immer wieder übergeben. Sie erreichten gerade noch Biberach. An eine Fortsetzung der Reise war jedoch nicht zu denken. Völlig auf sich allein gestellt, begab sich Brunhilde Mannshardt zum Rathaus und bat dort um eine Bleibe. Allerdings hatte sie kein Glück, da der Ratschreiber ihr mitteilen musste, dass "Gasthäuser und private Quartiere alle schon längst überfüllt [seien] von den vielen Flüchtlingen, die vor den Fliegerangriffen aus den Großstädten geflohen waren". So machte sie sich selbst auf die Suche und fand schließlich "aber doch in einem kleinen, armseligen Häusel bei einer Familie ein kleines, sehr bescheidenes Zimmerle ohne Heizungsmöglichkeit". Die Freude hielt jedoch nur bis zum nächsten Fliegeralarm, der so knapp ausgelöst wurde, dass sie keinen offiziellen Luftschutzkeller mehr aufsuchen konnte: "Da bin ich fast gestorben vor Angst; denn ich hab gedacht, dieses kleine Häusel fällt ja allein schon vom Luftdruck zusammen, wenn nur in der Nähe eine Bombe runter fällt." Wenig später kam jedoch Rettung, als gänzlich unerwartet ihr Cousin auftauchte, dessen Vater genauso wie Julius Gutekunst inzwischen in Sulz bei Lahr untergekommen war. Der hatte erfahren, dass seine Tochter und seine Enkelin nicht wie erhofft an den Bodensee gelangt, sondern in Biberach gestrandet waren. Als sein Neffe mit einem Dienstwagen in Sulz auftauchte, um seinen Vater zu besuchen, ergriff Gutekunst die Gelegenheit und schickte ihn los, um die beiden zu suchen. Tatsächlich fand er sie und chauffierte Mutter und Kind nach Sulz, wo sie am frühen Nachmittag des 3. Dezember 1944 eintrafen.

Sieglinde Metzler mit ihren Eltern

Hier konnten die drei Gutekunst-Generationen bis Kriegsende bleiben, allerdings waren sie auch hier immer wieder großen Gefahren ausgesetzt, vor allem wegen der  Fliegerangriffe: "Es war ein fürchterliche Dröhnen und Krachen und Pfeifen um uns herum", notierte Brunhilde Mannshardt wenige Tage später. Noch am 18. April 1945 kam es zu erbitterten Kämpfen, bevor am folgenden Tag gegen 9.45 Uhr französische Truppen einmarschierten.

Brunhilde Mannshardt war einerseits erleichtert, als die Kapitulation erfolgte und ihr zumindest aus Kriegshandlungen keine Gefahr mehr drohte. Als Befreiung jedoch konnte sie diesen Tag nicht empfinden: "Umsonst waren all die Opfer, die unsere armen, tapferen Soldaten brachten, und umsonst die vielen Opfer, die die Heimat bringen mußte."
Ein paar Wochen später fuhren Julius und Emmi Gutekunst nach Kehl, um vor Ort die Lage auszukundschaften. In einem Fahrradanhänger führten sie Gepäck bei sich, denn Emmi Gutekunst besaß einen französischen Pass, konnte die Sprache der Nachbarn fließend sprechen und ging davon aus, dass sie in Kehl würde bleiben können. Auch ihr Mann wollte wenige Tage später wieder nach Kehl übersiedeln – diesen Plan allerdings mussten sie alsbald aufgeben. Tatsächlich war Kehl für die deutsche Zivilbevölkerung gesperrt, auch für Gutekunsts gab es keine Ausnahme. [evtl. Bild 022]Als der Maler dies erfuhr, trat er in einem unbeobachteten Moment gegen ein Rad seines Anhängers und erklärte dem französischen Gendarmen anschließend, er müsse aber hinein, weil er so nicht zurückkehren könne und einen anderen Handkarren bräuchte, der sich in seinem Haus in der Kinzigstraße befinde. Darauf ließ sich der Gendarm tatsächlich ein, allerdings bestand er auf der Begleitung durch einen Kollegen. Nachdem die beiden völlig erschöpft wieder in Sulz angelangt waren, berichteten sie, in welchem Zustand sich Kehl nach ihrem Augenschein befinde. Brunhilde Mannshardt gab deren Worte wenig später in ihrem Tagebuch so wieder: "Unser liebes Kehl, unsere heiß geliebte Heimat, brennt an allen Ecken und Enden." Es seien Menschen aus Straßburg und "ausländische Zivilarbeiter, die während des Krieges in Deutschland arbeiten mußten, Polen usw.", welche "nun plündernd und brennend in unserer Heimat wüten". Noch waren die Bilder aus den Konzentrationslagern nicht bekannt, und Brunhilde Mannshardt, die keinerlei Nachrichten über den Verbleib ihres eingezogenen Ehemanns hatte, war viel zu sehr mit ihrem eigenen Elend befasst, als dass sie die von Deutschen begangenen Gräuel hätte reflektieren können. Tatsächlich hatten die Franzosen in der ersten Zeit der Besetzung Kehl zur Plünderung freigegeben. Daran beteiligten sich aber nicht nur, wie von Gutekunst berichtet, Franzosen und Displaced Persons, sondern auch deutsche Kriegsgefangene, für die auf dem Läger unter miserablen Bedingungen ein Durchgangslager eingerichtet war.

Julius Gutekunst sollte bis Oktober 1949 in Sulz wohnen bleiben, wo er sich in das gesellschaftliche Leben integrierte. Sichtbares Zeichen dafür war, dass er dort den katholischen Kirchenchor dirigierte. Zur Verbesserung der Ernährungslage malte er damals regelmäßig auf Bestellung sogenannte Speckbilder, meist Landschaftsmotive, die er dann gegen Essbares tauschte. Die Kunst diente jedoch nicht nur zum Broterwerb, sondern es gelang ihm darüber hinaus, in Sulz und in Lahr seine Werke mehrfach auszustellen. 1947 kaufte sogar Staatspräsident Leo Wohleb eine seiner Rheinlandschaften für die Freiburger Staatskanzlei an.

Brunhilde und Sieglinde Mannshardt hingegen verließen Sulz, wo sie sich nie richtig hatten einleben können, schon kurz nach Kriegsende. Sie kamen zuerst in ein Durchgangslager nach Willstätt und wurden von dort nach Freistett zugeteilt, wo das unstete Leben weitergehen sollte: Bis zu ihrer Rückkehr nach Kehl 1949/50 wohnten sie an drei beziehungsweise vier verschiedenen Adressen. Auch die talentierte Brunhilde Mannshardt besserte das Familienbudget mit "Speckbildern" auf – häufig zog sie morgens allein mit einer Chaise los, in die sie Staffelei, Karton und Ölfarben gepackt hatte, um in der freien Natur ihre Motive zu suchen. Die Verbindung zum Vater in Sulz blieb sehr eng, und bei einem der vielen Besuche im Herbst 1949 wurde auch die Rückkehr nach Kehl geplant. Julius Gutekunst mietete auf dem seit der ersten Rückgabe im Juli wieder von Deutschen bewohnbaren Sölling eine kleine Dachkammer an, von wo aus er mit Unterstützung der Tochter sein Malergeschäft neu gründete. Für die Enkelin allerdings war kein Platz in der kleinen Kammer, und ihre Mutter hatte auch keine Zeit, sich um Sieglinde zu kümmern. Die blieb noch ein halbes Jahr in Freistett bei einer befreundeten Familie und wurde dort auch im Herbst 1949 eingeschult. Anfang 1950 gelang es der Elsässerin Emmi Gutekunst endlich, bei den Franzosen die Herausgabe des Gutekunstschen Anwesens in der Kinzigstraße 13 durchzusetzen – obwohl das Haus noch immer nicht in einer der Freigabezonen lag. Hier zogen nun Julius und Emmi Gutekunst ein, während Brunhilde Mannshardt auf dem Sölling blieb und endlich ihre Tochter wieder zu sich holen konnte. Sie besaß einen Laissez-Passer, den sie benötigte, um überhaupt ins väterliche Geschäft zu gelangen und ihre Arbeit zu erledigen. Erst 1952 wurde auch die Kinzigstraße wieder freigegeben.

Eine Mutter schlägt sich durch: Familie Gerloff

Anders als Brunhilde Mannshardt hatte die 29-jährige Ella Gerloff mit ihren drei kleinen Töchtern Kehl nicht frühzeitig verlassen, sondern musste sich am 23. November 1944, als Straßburg befreit wurde, zu Fuß in die Flüchtlingskarawane einreihen. Allerdings ist kaum zu vermuten, dass sie vorher mit dem Gedanken gespielt hat, sich dem offiziellen Bleibegebot zu widersetzen. Immerhin nahm das tägliche Leben auch nach dem Bombenangriff Ende September seinen normalen Fortgang. So besuchte ihre siebenjährige Tochter Brigitta täglich die Falkenhausenschule, auch noch am 23. November selbst. Der Unterricht fand, abgesehen von den durch Bombenalarm verursachten Unterbrechungen, noch immer regulär statt. An jenem 23. November, es war ein Donnerstag, wurden die Kinder jedoch um zehn Uhr wieder nach Hause geschickt. Brigitta holte ihre Großmutter ab, die in der Großherzog-Friedrich-Straße wohnte, und ging mit ihr zusammen nach Hause in die Kinzigstraße. Dort packte ihre Mutter eilig einen Rucksack für sich selbst, dazu Windeln und all das, was sie für ihre anderthalbjährige Tochter Gisela benötigte. Sie nahm den kleinen braunen Luftschutzkoffer mit den wichtigsten Papieren, der ohnehin immer griffbereit in einer Ecke stand. Brigitta schnallte sich ihren Schulranzen um und übernahm einen Einkaufskorb mit den nötigsten Körperpflege-Utensilien. Die fünfjährige Tochter Ingrid trug ebenfalls einen Korb, in dem sich zwei Schoppenflaschen und ein paar belegte Brote befanden. Das Gepäck der 50-jährigen Großmutter Elisabetha Weber bestand aus einer größeren Einkaufstasche und ihrer Sonntagshandtasche. Die genauen Informationen über das "kleine Fluchtgepäck", das wohl typisch gewesen sein dürfte, sind Brigitta Gerloff zu verdanken. Ihrer präzisen Schilderung ist auch der Fortgang der Flucht nachgezeichnet.

Zunächst allerdings endete diese bereits nach wenigen Metern, als auf Höhe der damaligen Gewerbeschule (später: Tulla-Realschule, seit 2019 Das Kulturhaus) der Kinderwagen, in dem die kleine Gisela geschoben wurde, ein Rad verlor. [Bild 007]Da es sich um einen Spezial-Kinderwagen handelte, weil Gisela an einer Hüftluxation litt und eingegipst auf der Seite liegen musste, war an einen adäquaten Ersatz natürlich nicht zu denken. So kehrte die Familie um, holte ihren alten Kinderwagen, bettete die Kleine hinein und reihte sich erneut in den Menschenstrom ein.

Im Gegensatz zu vielen anderen hatten die Gerloffs ein klares Ziel: Sie wollten nach Leutesheim, wo die Großmutter geboren und die Familie häufig zu Besuch war. Kaum angekommen, mussten sie jedoch sofort weiterziehen, da Leutesheim ebenso wie der gesamte Landkreis von Flüchtlingen nicht nur aus Kehl, sondern auch aus Straßburg überzuquellen drohte. Nur die Großmutter durfte bleiben, weil sie dort das Heimatrecht besaß.

Die anderen vier gelangten schließlich nach Mösbach bei Achern, wo Ella Gerloff eine Familie kannte, bei der sie auch tatsächlich aufgenommen wurden. Giselas Ganzkörper-Gips musste häufig erneuert werden, weil das Kind schnell wuchs. Also machte sich Ella Gerloff mit dem schwergängigen Kinderwagen auf den Weg nach Achern, über Stock und Stein, wie Brigitta später festhielt. Aber das war nicht das größte Problem, sondern ein Tiefflieger, der ihre Mutter entdeckt hatte und sich anscheinend einen Spaß daraus machte, sie "von Baum zu Baum" zu jagen. Irgendwann ließ er schließlich von ihr ab, jedoch sollte sie diese Situation ihr Leben lang nicht vergessen. Der Flieger war ihr bei seinen Manövern so nahe gekommen, dass er seinem Opfer in die Augen schauen konnte.
Die Flucht-Odyssee war noch längst nicht zu Ende, denn auch in Mösbach durften Gerloffs nicht bleiben. Per Eisenbahn sollte es noch im Dezember 1944 auf die Schwäbische Alb gehen. Der Zug, in dem sie jetzt saßen, evakuierte ein Straßburger Altenheim. Viele der Mitreisenden waren verwirrt und kamen mit der Situation überhaupt nicht zu Rande, was nicht zuletzt daran lag, dass es weder Medikamente noch etwas zu essen oder etwas zu trinken gab. Und wieder machte der Gips der kleinen Gisela Probleme, denn er hätte schon längst gewechselt werden müssen, so dass die Haut darunter nicht nur zu jucken, sondern auch zu faulen begann. Tatsächlich muss der Zug, dessen Fensterscheiben zerschlagen waren, tagelang auf irgendeinem Abstellgleis gestanden haben. Als der Wagen endlich geöffnet wurde und Rotkreuz-Schwestern Milchkaffee verteilten, trank Brigitta, die ungeheuren Durst hatte, das Gebräu entgegen der Warnungen ihrer Mutter. Daraufhin wurde ihr so übel, dass sie sich übergeben musste – in einen Eisenbahnwagen, wo ohnehin unsäglich schlechte hygienische Zustände herrschten.

Am Nachmittag des 24. Dezembers erreichten sie schließlich Geislingen an der Steige, wo die Familie in einem Sammellager untergebracht wurde. Der Empfang war alles andere als "weihnachtlich", denn sofort nach ihrer Ankunft wurden ihnen die letzten Habseligkeiten gestohlen, darunter ein kleiner Pelz mit Fuchsköpfchen, den Brigitta Gerloff von ihrer Großmutter geschenkt bekommen hatte – ein schmerzlicher Verlust für das Kind.[Bild 008]
Die Familie kam im Dienstbotenzimmer der Luxuswohnung einer Geheimratswitwe unter. Bis Kriegsende konnte Brigitta Gerloff die Geislinger Volksschule besuchen. Dann requirierte die amerikanische Besatzungsmacht das Gebäude, und so fand kein Unterricht mehr statt.

Kurz darauf kehrte die Familie nach Leutesheim zurück – jetzt wurde sie nicht mehr abgewiesen, sondern konnte den provisorisch hergerichteten Speicher des alten Schulhauses beziehen. Seit 1943 hatte Ella Gerloff keine Nachricht mehr von ihrem Ehemann erhalten, der als verschollen galt. Tatsächlich befand er sich in amerikanischer Kriegsgefangenschaft und wusste nichts über die Kehler Entwicklungen, als er im Oktober 1945 entlassen wurde. Erst in Karlsruhe erfuhr er, dass Kehl schon seit Monaten für Deutsche gesperrt war und so kam er nur bis Offenburg. Sofort umringten ihn Besatzungssoldaten, die Hermann Gerloff seine Papiere abnehmen und ihn zur Zwangsarbeit nach Frankreich verschleppen wollten. Zufällig befand sich seine Schwester am Bahnsteig, die ihn sofort erkannte und aus der vertrackten Lage rettete. Sie brachte ihn zu seiner Familie nach Leutesheim. Da der Sozialdemokrat Hermann Gerloff nachweislich kein Nazi-Anhänger war, interessierten sich die Franzosen für ihn und verpflichteten den ausgebildeten Gärtner auf den Hahnhof nach Baden-Baden, wo er einige Jahre als "Chef-Jardinier" für General Kœnig tätig war. Seine Familie durfte er mitnehmen, jedoch litten auch die Gerloffs unter der verheerend schlechten Ernährungssituation: "Gelbes, sehr flaches Maisbrot mit Margarine war unsere Hauptspeise", berichtet Brigitta später. 1949 versetzten ihn die Franzosen nach Mainz, wo inzwischen der Hohe Kommissar François Poncet residierte. Hermann Gerloff war nun für die Parkanlage des Schlosses Waldhausen zuständig. Die Familie lebte im Pförtnerhaus und es war selbstverständlich, dass alle mit anzupacken hatten, wenn hoher Staatsbesuch angekündigt war. So kam es, dass Brigitta Gerloff im Konfirmationskleid mit weißer Schürze mehr als einmal Bundespräsident Heuss und Bundeskanzler Adenauer den Begrüßungschampagner offerierte. [nur, wenn nötig: Bild 009]1952 gelangte die Familie nochmals nach Baden-Baden, wo Vater Gerloff erneut für die Besatzungsmacht tätig war. Erst 1954 kehrten sie nach Kehl zurück, weil Hermann Gerloff die Leitung der Stadtgärtnerei in Aussicht gestellt worden war. Seine Frau und seine Töchter waren hierüber sehr unglücklich, denn sie hatten sich inzwischen in Baden-Baden gut eingelebt und Kehl erschien ihnen höchst unattraktiv.

Offenbar konnten sie sich dann aber trotz allem mit ihrem neuen Zuhause anfreunden. Brigitta Gerloff lebt heute in Willstätt, ihre Schwester Ingrid in Sundheim und Gisela in Offenburg.

Abgewiesen und angefeindet: Familie Zeeb

Charlotte Zeeb konnte Kehl mit ihrem zweijährigen Sohn Gerhard ebenfalls nicht vor dem 23. November 1944 verlassen und musste sich in den großen Strom der kopflos Fliehenden einreihen. Trotz der chaotischen Zustände schaffte sie es, mit der  Eisenbahn nach Bebra bei Kassel zu gelangen. Möglicherweise war die Hoffnung, ihren elfjährigen Sohn Günther wieder bei sich zu haben, die Antriebsfeder dafür, dass sie alles in Bewegung setzte, um ihr Ziel zu erreichen.

Die Einweisung der Familie Zeeb in Überlingen

Den hatte sie nämlich elf Tage zuvor dorthin zu seiner Tante geschickt, damit er vor den immer häufigeren Bombenalarmen und dem Artilleriefeuer in Sicherheit wäre. Günther Zeeb erlebte den Fliegerangriff auf Straßburg am 25. September 1944 hautnah mit, als auch in Kehl einige Bomben fielen und Tote zu betrauern waren, darunter die Familie Samson – die Mutter wurde mit ihren drei Töchtern im Luftschutzkeller Kinzigstraße Ecke Marktstraße verschüttet, und sie konnten nicht mehr gerettet werden. Familie Zeeb hatte in ihrem eigenen Luftschutzkeller Schutz gesucht, der, so berichtet Günther Zeeb, eigentlich keiner war, da er "zu ebener Erde" lag. Jahrzehnte später schilderte er das Erlebte: "Wir waren kaum im Gang [des Kellers], da brach draußen die Hölle los. Ein ununterbrochenes Krachen, Bersten und Detonieren." Die Familie musste danach in dem inzwischen sehr maroden Gebäude wohnen bleiben. [nur, wenn nötig: Bild 010]
Auch in Bebra heulten beinahe täglich die Sirenen und Günther Zeeb entkam am 4. Dezember 1944 nur knapp dem einzigen Luftangriff auf die Stadt, der jedoch eine verheerende Wirkung hatte.

Kaum war Mutter Charlotte Zeeb mit Gerhard in Bebra angekommen, ordnete die NSV Mitte Dezember an, alle evakuierten Kehlerinnen und Kehler in den Landkreis Überlingen zu "überführen". Als Familie Zeeb am 15. Dezember dort eintraf, wurde sie sofort in das dortige Hotel "Zähringer Hof" eingewiesen. [Bild 011]In der Bodenseestadt jedoch fühlten sich Zeebs zu keinem Augenblick erwünscht und gut aufgenommen: Die Bevölkerung trat ihnen gegenüber äußerst feindselig auf. Jeder Gang kam einem Spießrutenlaufen gleich, und die Einheimischen gaben ihnen deutlich zu spüren, dass sie sie als ungebetene Eindringlinge betrachteten. Schimpfworte wie "Westwallzigeuner" oder "Halbfranzosen" waren an der Tagesordnung. Die Überlinger Erlebnisse erschütterten vor allem Charlotte Zeeb derart nachhaltig, dass sie Jahre später ihrem Mann noch immer aufgewühlt davon berichtete. Der fasste die Erfahrungen in Versform, wobei er, so sagt Günther Zeeb noch heute, die damalige Atmosphäre exakt wiedergab.

Überlingen 1955/45 von Karl Zeeb

In Überlingen, am schwäbischen Meer
Vernimmt man eine neue Mär:
Überlinger, höret an:
Es kommen Kinder, Frau und Mann.
 
Wir brauchen Platz für all die Leut'
Rückt zusammen, seid bereit
Diese armen Menschen hier
Suchen ein gutes Quartier.
[...]
Aber als das arme Völkchen naht
Und Ihr die Bombardierten saht
Drehte jeder stur und stumm
Zum eignen Haus sich schnellstens um.
 
Und sahen die Kehler sich nach einem Zimmer um
Dann sagtet Ihr, wir sind nicht dumm
Es langt uns jetzt von eurer Sort'
Haut ab, an einen anderen Ort. 
[...]
So und ähnlich habt Ihr lamentiert
Was in Überlingen da passiert
Wir sagen's heut und allemal
Unser Flüchtlingslos war Euch grad egal."

So freute sich die ganze Familie, als sie Überlingen nach Kriegsende wieder verlassen konnte. Da der Zugang nach Kehl weiter gesperrt war, begann eine neue Odyssee: Zuerst landete sie in Hohnhurst, von da ging es bald weiter nach Hesselhurst in eine Massenunterkunft, die notdürftig in der Schule eingerichtet worden war. Dort schliefen sie ebenso wie die anderen Obdachlosen auf Strohlagern. Ihre nächste Station war Helmlingen, wo die Familie bei einer Witwe eingewiesen wurde. Hier fand sie Vater Karl Zeeb im Jahr 1946, nachdem er aus britischer  Kriegsgefangenschaft entlassen wurde. In Helmlingen verbrachte die Familie vier Jahre, und hier normalisierte sich auch das Leben wieder ein wenig: Günther Zeeb besuchte die Schule und wurde 1947 konfirmiert.

Allerdings blieb die Ernährungslage für die offiziell anerkannten Flüchtlinge prekär, was sich besonders am Vergleich der Pausenbrote zeigte. Zeeb selbst beschrieb das Jahrzehnte später so: "Meine Mutter hatte immer Maisfladen gebacken, die waren staubtrocken. Und meine Mitschüler hatten in ihr Speckbrot gebissen, da ist mir oft das Wasser im Mund zusammengelaufen." Wer nicht auf Produkte aus der eigenen Landwirtschaft zurückgreifen konnte, hatte in der unmittelbaren Nachkriegszeit besonders in der französischen Zone mit kargen Rationen, oft sogar mit dem schieren Überleben zu kämpfen. Erst als Vater Zeeb sich als Hilfskraft bei einem Bauern verdingen konnte, besserte sich für seine Familie die Situation.

In Helmlingen entdeckte Günther Zeeb seine große Leidenschaft, den Handballsport. Eigentlich hätte er lieber Fußball gespielt, wie dies sein Vater schon getan hatte. Doch an eigene Fußballschuhe war überhaupt nicht zu denken, und einen vernünftigen Fußballplatz wie in den umliegenden Gemeinden gab es 1947 hier auch nicht. So trat Günther Zeeb in den Handballverein Helmlingen ein und spielte so gut, dass er mit 17 Jahren sogar eine Sondergenehmigung für die Seniorenmannschaft erhielt. Vorher stand allerdings ein weiterer Umzug an, und zwar nach Rheinbischofsheim, wo Vater Zeeb Arbeit gefunden hatte. Die Kehler Goldscheuerstraße, in die Zeebs dann endlich einziehen konnten, wurde im Rahmen der 14. Teilfreigabe am 20. September 1950 wieder zugänglich.

Günther Zeebs harter und weiter Wurf mit der Linken war schon bald legendär. Mit das erste, was er nach seiner Rückkehr in die Heimatstadt Kehl unternahm, war die Wiederbegründung der Handballabteilung der Kehler Turnerschaft, für die er noch mehrere Jahrzehnte lang spielen sollte.

Unter Artilleriebschuss: Familie Lapp/Scholz

Nicht nur die Stadt Kehl selbst, sondern auch die Ortschaften wurden im November 1944 geräumt, als die Front auf der linksrheinischen Seite immer näher rückte und auch der Artilleriebeschuss stetig zunahm. Die meisten Neumühler fanden in Nesselried Zuflucht, darunter die 19-jährige Maria Scholz mit ihrer Mutter Mina Lapp sowie ihrer Schwester Mina Hetzel und deren drei Kindern. Dort stellte ihnen die Familie des Landwirts Eckenfels zwei Zimmer zur Verfügung. Da auch die Familie Lapp in Neumühl einen Hof bewirtschaftet hatte, war es selbstverständlich, dass alle in der Landwirtschaft mitarbeiteten. [Bild 013]Zu den Helfern gehörte auch der ukrainische Zwangsarbeiter Michael Poansiwyskyi, der schon seit Jahren bei der Familie Lapp in Neumühl eingesetzt und mit nach Nesselried evakuiert worden war.

Zu den Helfern gehörte auch der ukrainische Zwangsarbeiter Michael Poansiwyskyi.

Am 12. Dezember 1944 ließen sich Mina Lapp und Maria Scholz von Michel, wie der Ukrainer stets genannt wurde, mit dem Fuhrwerk nach Neumühl kutschieren, weil sie dort für sich und verschiedene andere evakuierte Neumühler Kleidungsstücke, Vorräte und Möbelstücke abholen wollten. Sie befanden sich bereits auf dem Rückweg und fuhren gerade durch Odelshofen, als sie plötzlich in Artilleriefeuer von der anderen Rheinseite gerieten. Der Kronenwirt Kurt König rief ihnen noch zu, sie könnten sich bei ihm in Sicherheit bringen. In Windeseile sprangen sie ab. Der Zwangsarbeiter folgte Königs Aufforderung, während Mina Lapp ihre Tochter ins gegenüber gelegene Milchhäusel zog. Durch den heftigen Beschuss wurden mehrere Häuser in Odelshofen zerstört, auch das Rathaus blieb nicht verschont. Als Mina Lapp und Maria Scholz wieder aus dem unbeschädigten Milchhäusel auftauchten, bemerkten sie, dass die Krone einen Volltreffer bekommen hatte. Kurt König und Michael Poansiwyskyi konnten sich nicht mehr retten. [Bild 014]Da der Beschuss aus Straßburg nach wie vor anhielt, durfte es niemand riskieren, die beiden Toten nach Kork zu bringen, wo die Odelshofener üblicherweise begraben wurden. Deshalb hob man auf dem Hohbühl zwei provisorische Gräber aus.

Irgendwie brachten es die zutiefst verstörten Frauen noch zuwege, das Fuhrwerk nach Nesselried zu dirigieren. Vor Kriegsende jedoch wagten sie es nicht mehr, noch einmal nach Neumühl zurückzukehren. Die Verbindung zur Familie Eckenfels in Nesselried blieb bestehen. Alljährlich kam Sohn Willy nach Neumühl, um bei Familie Lapp seine Ferien zu verbringen.

Für Mina Scholz hatte der Krieg ganz unterschiedliche Facetten. 1939 wurde sie selbst zu Schanzarbeiten herangezogen, sie musste bei Sundheim Schützengräben ausheben. 1940 dann lernte sie den Wehrmachtssoldaten Gerhard Scholz aus Breslau, ihren späteren Ehemann, kennen, der am Kinzigdamm zwischen Kehl und Neumühl im Bunker "Stolzenfels" Dienst schob. Zur ersten Begegnung kam es, als dieser, wie offenbar seinerzeit üblich, von Hof zu Hof pilgerte, um nach Lebensmitteln zu fragen – die Versorgung der Truppe scheint nicht die beste gewesen zu sein. Jedenfalls klopfte er eines Tages an die Tür des elterlichen Anwesens und fragte nach Eiern und Speck. Da er nicht der erste Soldat war, der "requirieren" wollte, lehnte die Mutter seinen Wunsch rundweg ab. Tochter Maria, die anscheinend von dem jungen Mann sehr angetan war, reagierte allerdings völlig gegenteilig: "Wir haben doch noch welche im Keller!" – und die Mutter musste sich geschlagen geben. Aus dieser ersten Begegnung entwickelte sich eine enge Freundschaft. [Bild 015]1943 feierten die beiden in Breslau Verlobung und am 10. Juni 1944 heirateten sie in Neumühl. Eigentlich kannten sie sich kaum, denn schon 1941 wurde Gerhard Scholz an die Ostfront versetzt und so blieben nur seine wenigen Urlaube für die Vertiefung der Beziehung. Nach dem Krieg geriet Scholz in amerikanische Gefangenschaft. Als er noch 1945 nach Heidelberg verlegt wurde, zog auch seine junge Frau dorthin, um in seiner Nähe zu sein. Das trauliche Beisammensein währte jedoch nur kurz: Als das junge Paar nach einigen Wochen einen Besuch in Neumühl wagte, wurde es auf der Rückfahrt in Appenweier von einer französischen Patrouille kontrolliert. Da sich Gerhard Scholz nicht hinreichend ausweisen konnte, landete er für vier Wochen im Renchener Gefängnis. Maria Scholz packte daraufhin ihre Sachen und zog wieder zu ihren Eltern nach Neumühl.

Schließlich ließen sich beide in Neumühl nieder. Breslau war inzwischen unerreichbar, und auch die Schwiegerfamilie fand in Neumühl eine neue Heimat.

Neue Existenz in Oberkirch: Familie Vogt

Als seine Familie am 23. November 1944 Kehl Hals über Kopf verlassen musste, befand sich Rudolf Vogt bei seiner Truppe in Ostpreußen. Im Gegensatz zu vielen anderen Flüchtlingen hatten seine Frau Berta, seine Schwiegermutter Marie Hupfeld und seine kleine, noch nicht einmal zweijährige Tochter Gisela Glück: Sie fanden in dem wahrscheinlich einzigen noch vorhandenen Umzugswagen der Firma Kaufmann einen Platz und mussten so nicht zu Fuß mit dem breiten Flüchtlingsstrom mitziehen. Vor dem "Grünen Baum" in Ödsbach war zwar Endstation, doch auch hier verließ sie das Glück nicht, denn sie erhielten dort im Gasthaus sofort eine Unterkunft. Als Rudolf Vogt zwei Wochen später per Zufall von der Evakuierung erfuhr, reichte er sofort ein Gesuch um Heimaturlaub ein. Am 10. Dezember 1944 kam er überraschend in Ödsbach an. Rudolf Vogt wollte sich einen Überblick über die Lage in Kehl verschaffen und machte sich zusammen mit Alfred Ross, der noch einen PKW mit Anhänger besaß, am 13. Dezember auf den Weg. Die Erlaubnis, die Stadt zu betreten, erteilte ihnen der zuständige Abschnittskommandeur. Tatsächlich konnten sie mit dem Wagen bis in die Bierkellerstraße vorfahren, von wo aus sich Rudolf Vogt zu Fuß aufmachte, um die verschiedenen Häuser der Familie zu inspizieren. Wenige Tage später berichtete er in einem Brief an seine Geschwister: "Es war nicht schön was ich antraf. Nicht dass Granaten unsere Häuser in Trümmer gelegt hätten, nein, denn was ich antraf ist nur mit dem Wort "Plünderung" zu bezeichnen. [...] Über allerlei Geröll kam ich ans Haus, [...] die Scheiben waren kaputt. Im Esszimmer war der Tisch ausgezogen, eine weisse Decke lag drauf und Spuren von Essen lagen drauf. [...] Im Herrenzimmer war in allem herumgewühlt. [...] Ich stieg in den Keller, wo ich u.a. feststellte: beide Fahrräder weg, alles Trinkbare natürlich ausgetrunken, alles Essbare, Kerzen - weg. [...] Es stieg ein Ekel in mir [auf], dass deutsche Soldaten sich derart aufführen. Ich bin 5 Jahre als Soldat umhergezogen, aber solche Schweinereien habe ich nie und nimmer gemacht."

Etwa gleichzeitig erging die Aufforderung an seine Familie, sich am 15. Dezember 1944 am Oberkircher Bahnhof für den Weitertransport einzufinden. Da sich Vogts aber in Ödsbach einigermaßen untergebracht fühlten, ignorierten sie diese Anordnung. Sie wollten die Reise ins Ungewisse nicht auf sich nehmen, zumal kein Ziel bekanntgegeben wurde. Letztendlich wäre dies der Landkreis Überlingen gewesen, wohin die NSV systematisch Kehler Flüchtlinge schaffen ließ. Als im März 1945 ein Armeestab im "Grünen Baum" einzog, mussten sich Berta Vogt und Marie Hupfeld sowie drei andere Familien, die dort untergebracht waren, eine neue Bleibe suchen.

Familie Vogt

Schließlich konnten sie am Ende des Dorfes in den Resten einer 1943 abgebrannten Villa unterkommen. Dieser Umzug war mit dem großen Vorteil verbunden, dass die Wehrmacht einen Laster zur Verfügung stellte, damit sie ihre Schlafzimmer- und Küchenmöbel aus Kehl holen konnte. Ab Juni bewohnten die beiden Frauen mit dem Kind allein ihre neue Bleibe, da die anderen Familien aus Altenheim stammten und wieder in ihre Häuser hatten zurückkehren können.

Die Ernährungslage in der französischen Zone blieb äußerst kritisch, und besonders die Großmutter machte sich daher regelmäßig zu Hamsterzügen auf, um bei den Bauern am nahen Holdersberg etwas Essbares zu ergattern. Ihre Enkelin begleitete sie dabei und erinnert sich noch sehr genau, dass sie dort "immer ein großes Butterbrot bekommen hat". Zusätzliche Unterstützung kam von den Geschwistern der Großmutter, die im Elsass lebten. Ihre Familie war während des Kaiserreichs dorthin gezogen. Bis auf Marie Hupfeld konnten nach dem Ersten Weltkrieg alle bleiben, weil sie französische Partner geheiratet hatten und nun die "richtige" Staatsbürgerschaft besaßen. Einzig Marie Hupfeld wählte einen Deutschen und musste deshalb 1919 zusammen mit Mann und Tochter Straßburg verlassen. Sie sprach perfekt Französisch und litt wie ihr Mann sehr darunter, dass sie in ihre Wahlheimat nicht mehr zurückkehren konnte. 1930 schließlich ließen sie sich in Kehl nieder, wo sie in der Hauptstraße ein Tabak-Geschäft eröffneten. Dort starb Albert Hupfeld 1934. Nach Kriegsende konnte Marie Hupfeld froh über ihre elsässische Verwandtschaft sein, da diese sie nun regelmäßig mit dem Notwendigsten versorgte.

Rudolf Vogt geriet in den letzten Kriegstagen in amerikanische Gefangenschaft und kehrte im Spätsommer 1945 nach Ödsbach zurück. Als 1946 in Kehl gut 6000 französische Zivilisten angesiedelt wurden, setzte er nicht mehr auf eine baldige Rückkehr, sondern gründete im nahen Oberkirch, wohin die Familie alsbald zog, seine "Fachgroßhandlung für das graphische Gewerbe".1934 hatte er von seinem Vater Carl Vogt das "Fachgeschäft für Buchdruckereien, Buchbindereien  und Cartonnagenfabriken" übernommen und seither in Kehl geführt. Nun baute er es in Oberkirch wieder auf. 1949 verfügte das Geschäft bereits über ein Büro in der dortigen Hauptstraße und zwei Lager.

Natürlich hatte Berta Vogt im Frühjahr 1945 nur einen Bruchteil ihrer Möbel nach Ödsbach "evakuieren" können. Was in Kehl zurückblieb, wurde nicht selten von den Franzosen, die zum großen Teil selbst mittellos waren, requiriert und weiter verwendet. Die meisten Möbel waren einfach verschwunden, als die Eigentümer ihre Wohnungen nach einer der Freigaben wieder betreten konnten. Manche Stücke fanden sich aber auch wieder. So kündigte die Kehler Zeitung am 5. Juli 1952 an, dass demnächst sämtliche Möbel, die von den Besatzungsbehörden an das Kehler Requisitionsamt übergeben worden seien, auf dem Trickschen Firmengelände zu besichtigen wären. Um keine zu großen Hoffnungen zu wecken, merkte die Zeitung jedoch an, dass viele Stücke stark beschädigt seien. Man forderte diejenigen, die ihre eigenen Möbel erkannten, auf, das Eigentum glaubhaft nachzuweisen. Alle herrenlosen Gegenstände sollten später versteigert werden. Neben vielen anderen machte sich Rudolf Vogt auf und fand tatsächlich einen kleinen Kindersessel und ein Klavier der Marke Ackermann, die früher in seiner Wohnung gestanden hatten. Wegen des Klaviers, das in einem schlechten Zustand war, entbrannte ein heftiger Streit, weil eine Frau behauptete, die rechtmäßige Eigentümerin des Instrumentes zu sein. Schließlich konnte Rudolf Vogt Kontakt zu einem "Frl. Riebel" herstellen. Sie war drei Jahre lang bei einem französischen Offizier als Haushälterin beschäftigt gewesen und versicherte eidesstattlich, dass sie dieses Klavier besonders gut kenne, weil sie es täglich abstauben musste. Ihr Arbeitsplatz befand sich im Haus Hermann-Dietrich-Straße 19 – hier hatten die Vogts bis zur Evakuierung gelebt. Am Ende gelangten beide Möbelstücke dann doch nach Oberkirch. Noch heute stehen sie dort in der Wohnung von Tochter Gisela, die als kleines Kind mit ihrer Mutter und Großmutter am 23. November 1944 aus Kehl hatte fliehen müssen.

Kühe und Hühner gerettet: Familie Hornung

Georg Hornung war sieben Jahre alt, als es am 23. November 1944 auch in Sundheim plötzlich hieß: "Alles raus – in zwei Stunden ist der Ort zu räumen". Sein 49-jähriger Vater Karl Albert Hornung übernahm sofort die Organisation. Zum Heer hatte man ihn nicht eingezogen, weil seine Bäckerei als kriegswichtiger Betrieb galt, er zudem für den Heimatschutz eingeteilt war und darüber hinaus auch eine Landwirtschaft unterhielt. Schnell wurde alles, was an Hausrat greifbar war, auf ein Fuhrwerk gepackt und die beiden Kühe Hella und Laura davor gespannt. Das Kalb trabte hinter dem Wagen an einer Leine. Auf dem Wagen nahmen die Großeltern, die Mutter, die Tante, seine jüngere Schwester und Georg Hornung selbst Platz, dazu kamen noch ein Fahrrad und – ganz wichtig – die Hühner. Karl Albert Hornung hatte sich nämlich seit vielen Jahren auf die Geflügelzucht spezialisiert: Zum einen brachte er eine spezielle Sorte des berühmten Sundheimer Huhns auf den Markt, das "Zwiehuhn", das wegen seiner besonderen Legeleistung diverse Auszeichnungen einheimste. Daneben betrieb er eine Fasanenzucht, die er zu seinem großen Bedauern jedoch zurücklassen musste.

Als erstes Ziel steuerte Vater Hornung Offenburg an. Dort trafen sie auf verschiedene andere Landwirte aus Sundheim. Am nächsten Tag ging die Fahrt weiter nach Ibach bei Oppenau ins Renchtal, wo Hornungs bereits die erste Evakuierungszeit 1939/40 verbracht hatten. Dieses Mal wurden sie dem Brujosenhof der Familie Huber zugeteilt, welche sie freundlich aufnahm. Georg Hornung hat die Zeit der Evakuierung in bester Erinnerung: Er sei behandelt worden wie ein eigenes Kind, vor allem die Großmutter habe ihn sofort "adoptiert", weshalb er sie bis heute als "meine Ibach-Oma" bezeichnet. Alle hätten gemeinsam um den Esstisch gesessen und die Mahlzeiten geteilt. Vor allem aber musste er nicht zur Schule gehen, weil diese überfüllt gewesen sei. Im Winter seien die Kinder in den Schwarzwald zum Schlittenfahren losgezogen – das hatte Georg Hornung nicht gekannt. Auch, dass Vater Huber ihn mit auf die Jagd nahm, fasziniert ihn bis heute. Sein Fazit lautet denn auch: "Für mich als Kind war das eine schöne Zeit."

Selbstverständlich halfen alle auf dem Hof mit. Jedoch war dies keine Garantie für ein friedliches Zusammenleben, wie ein anderer Sundheimer Landwirt erfahren musste, der mit seiner Familie und seinem Vieh eine Bleibe in Ortenberg gefunden hatte. Seine Kühe standen dort im Stall, eine jedoch konnte sich offenbar nicht benehmen: Eines Tages fraß sie von der Wand weg die Schmuck-Krone einer "Gastgeber-Kuh", woraufhin sie des Hofes verwiesen und zu Bekannten nach Hesselhurst weitergereicht wurde.
Regelmäßig fuhr Vater Hornung mit dem Fahrrad von Ibach nach Sundheim, um seine Fasane zu versorgen – so lange, bis er eines Tages feststellen musste, dass es keine Tiere mehr gab. Sie waren "gemetzgert worden". Ob dies vor oder nach der Besetzung am 15. April 1945 geschah, lässt sich heute nicht mehr feststellen.

Mitte April marschierten die Alliierten auch in Ibach ein. [Bild 019]Schon Anfang Mai konnten die Hornungs nach Sundheim zurückkehren, das die Franzosen zusammen mit dem Kronenhof wieder freigegeben hatten. Das Dach des Hauses war beschädigt, weil es einen Granattreffer abbekommen hatte. Der Schaden stellte sich als nicht allzu schlimm heraus, jedoch war das gesamte Inventar zerschlagen und das Haus selbst, so erinnert sich Georg Hornung noch heute äußerst befremdet, völlig verdreckt: Irgendjemand hatte gar "an der Wand nuff gschissen"! Nachdem der Hof wieder einigermaßen hergerichtet und gesäubert war, stellte sich das nächste Problem: Es gab keinerlei Brennstoff, kein Holz und keine Kohlen ließen sich auftreiben, so dass der Bäcker außerstande war, sein Brot zu backen. Hornungs zogen schließlich mit den Kühen in den Rheinwald, um dort Holz zu sammeln.

Beinahe über Nacht fand nun ein Rollentausch statt: Nachdem Hornungs über fünf Monate lang von der herzlichen Gastfreundschaft  auf dem Brujosenhof profitiert hatten, wurden sie selbst Quartiergeber. Sie nahmen Vater Karls Cousin Emil und dessen Schwester Luise auf. Emil Hornung besaß in Dorf Kehl gegenüber der Gaststätte "Milchkutsch" eine Bäckerei, die nun jedoch hinter Stacheldraht im französischen Teil der Stadt lag und für ihn damit unerreichbar war. So produzierte er bis Anfang der 50er-Jahre seine Backwaren in Sundheim. Doch Hornungs rückten noch enger zusammen und nahmen auch die ebenfalls evakuierte Familie Walter auf, die sie bis dahin nicht kannten.

So, wie sie vorher in Ibach fremde Hilfe erfahren durften, so teilten sie jetzt mit anderen, die ihre Unterstützung bitter nötig hatten.

Dr. Ute Scherb