Erfolgreich fern der Heimat
Weihnachten fern der Heimat oder: Angekommen in Kehl
Ob 2015/2016 oder 2022: Geflohen vor Krieg, Terror und Verfolgung langen sie in Kehl an. Traumatisiert, entwurzelt, ohne Sprachkenntnisse, in einer fremden Kultur. Ein Umzug in ein anderes Land gehört für keine und keinen von ihnen zur Lebensplanung. Was ist aus ihnen geworden – zehn Jahre nach Kanzlerin Angela Merkels „wir schaffen das“? Heute sprechen sie Deutsch, sind Erzieherin, Bauingenieur, Elektriker, Heilerziehungsassistent, studieren Sozialarbeit oder Bauingenieurwesen. Und trauen sich doch nicht alle, ihre Namen zu nennen.
Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates (IS) überfallen am 3. August 2014 Shingal im Nordirak. Wer nicht fliehen kann, wird ermordet. Niemand weiß genau, wie viele Menschen die fanatischen IS-Kämpfer töten; Schätzungen gehen von mindestens 15 000 Toten und Vermissten aus. Der Vernichtungsfeldzug gegen die kleine ethnisch-religiöse Minderheit der Jesiden ist inzwischen von den Vereinten Nationen als Genozid anerkannt. Auch der Schwager der Familie Suleiman ist unter den Opfern. Atto Suleiman kann sich mit seiner Frau und seinen fünf Kindern in die Berge retten. Nach vielen schweren Monaten erreicht die Familie schließlich Deutschland. Im September 2015 teilen sie sich in der Erstunterbringung in Kehl, in der jedem Geflüchteten 4,5 Quadratmeter Bruttowohnfläche zustehen, mit zwei anderen Familien eine Wohnung in der Fabrikstraße; für 14 Personen gibt es eine kleine Küche, ein Bad, eine Toilette.
Familie Suleiman
Heute lebt die Familie in Hannover: Vater Atto arbeitete zunächst in seinem Beruf als Bauingenieur und ist seit fünf Jahren technischer Sachbearbeiter bei der Stadt Seelze. Sein ältester Sohn Nashwan hat im März sein Studium zum Bauingenieur abgeschlossen und ist seit Juli im Rathaus in Lehrte beschäftigt. Berufsbegleitend plant er, seinen Master zu machen. Nariman, die älteste Tochter, hat ihren Abschluss im Bauingenieurswesen Mitte Dezember gemacht und während des Studiums an den Wochenenden einen Minijob ausgeübt. Derzeit sucht sie eine Festanstellung. Narimans mittlerer Bruder Nawras schreibt gerade an seiner Bachelorarbeit und wird im Sommersemester sein Studium als Bauingenieur beenden; für den Master ist er bereits eingeschrieben. Sein Studium hat er mit Jobs als Werkstudent und als Serviceberater bei Media Markt mitfinanziert. Alle drei Geschwister besuchten in Kehl das Einstein-Gymnasium.
Der jüngste Sohn Khalaf, der in Kehl in der Tulla-Realschule war, hat im Juni 2024 seine Lehre als Elektriker abgeschlossen und arbeitet seit August in seinem Beruf. Derzeit bemüht er sich um einen Platz, um die Meisterausbildung zu absolvieren. Nesthäkchen Norman, in Kehl Falkenhausenschülerin, war nach dem Wechsel aufs Gymnasium meist Klassenbeste. Die Zwölftklässlerin engagiert sich nebenher in der Betreuung von Schulkindern. Mutter Amsha hat trotz schwerer gesundheitlicher Probleme die B1-Prüfung in Deutsch bestanden und konnte – wie ihr Mann und ihre Kinder – eingebürgert werden.
Ghafora und Madina Ahmadi
Ghafora Ahmadi ist acht Jahre alt, als sie 2015 mit ihren Eltern aus Afghanistan fliehen muss. Heute studiert sie Soziale Arbeit, weil sie anderen Menschen helfen möchte, und arbeitet nebenbei als Verkäuferin. „Wir wurden hier sehr freundlich aufgenommen, und dafür bin ich sehr dankbar. Ich bin froh, hier frei leben zu dürfen – im Gegensatz zu vielen Frauen in Afghanistan.“ Ihre Zwillingsschwester Madina besucht nach dem Abschluss der Tulla-Realschule die SGG12 in den Beruflichen Schulen. Madina engagiert sich ehrenamtlich im Seniorenheim in Goldscheuer, wo sie mit den Bewohnerinnen und Bewohnern spielt, spricht und wenn die Witterung es zulässt, spazieren geht. Außerdem arbeitet sie in der Josef-Guggenmos-Schule als Jugendbegleiterin und trainiert dort gemeinsam mit einer Kollegin das Team4Winners.
„Ich bin dankbar für die Erfahrungen, die ich in Deutschland machen durfte und freue mich, dass ich nun selbst etwas an die Gesellschaft zurückgeben kann.“
Mohammed Fathullah Qader Bzeni
Mohammed Fathullah Qader Bzeni stammt aus dem Irak und lebt erst seit vier Jahren in Deutschland. Als Sprachtalent spricht er nicht nur Kurdisch, sondern auch perfekt Arabisch und Paschtu. Auch auf Türkisch, Englisch – und inzwischen auch Deutsch – kann er sich gut unterhalten. Er hat bei der Diakonie Kork eine Ausbildung zum Heilerziehungsassistenten begonnen und der Umgang mit den Menschen, die er pflegt, macht ihm große Freude. Im September 2026 wird er seine Ausbildung abschließen. Er hofft, auf eine Festanstellung und dann auch endlich auf eine eigene Wohnung.
Eine Alleinerziehende mit einem Sohn
Hafiza (Name geändert) flieht 2015 hochschwanger vor dem Krieg in Syrien. Zwei Wochen nach Ankunft in Deutschland bringt sie – in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Heidelberg, in der rund 5000 Geflüchtete untergebracht sind – ihren Sohn zur Welt. In Kehl lebt sie mit ihrem Baby zunächst in der Gemeinschaftsunterkunft des Landkreises im L-Gebäude der Beruflichen Schulen. Das bedeutet, einen ehemaligen Klassenraum mit zwei Familien und vier jungen Männern aus Afghanistan und Syrien zu teilen. Privatsphäre gibt es nicht, bestenfalls einen Sichtschutz aus Schränken und Vorhängen. So verbringen Hafiza und ihr Sohn dessen erstes Lebensjahr. Danach teilen sie sich im selben Gebäude ein Zimmer mit einer sechsköpfigen Familie. An Schlaf ist in dieser Zeit kaum zu denken. Nach weiteren sechs Monaten bekommt sie mit ihrem Jungen ein eigenes Zimmer im Nachbargebäude. „Da ging es uns etwas besser“, sagt Hafiza, die damals Küche und Bad mit drei weiteren Familien nutzt. Als ihr Sohn zwei Jahre alt ist, vermittelte ihr das städtische Integrationsmanagement zum ersten Mal eine eigene, 40 Quadratmeter große Wohnung. Der Junge bekommt einen Kitaplatz, Hafiza muss jedoch weiter auf einen Deutschkurs warten. Erst 2018 kann sie einen Alpha-Sprachkurs machen, dann wartet sie auf einen Platz im B1-Kurs. Als sie für den B2-Kurs wieder auf der Warteliste steht, beginnt sie ein Praktikum in der Schneiderei der Diakonie Kork. Mit ihrem B2-Zertifikat in der Tasche bekommt sie eine Teilzeitstelle in der Hausaufgabenhilfe in der Schulkindbetreuung. Mittlerweile ist sie bei der Caritas in der Küche beschäftigt. Hafiza ist zufrieden mit ihrer Arbeit und glücklich mit ihren Kolleginnen und Kollegen, mit denen sie auch private Kontakte pflegt. In Syrien dürfte sie nicht arbeiten, sagt sie.
„Hier bekomme ich mein eigenes Geld, ich bezahle die Miete. Ich habe mein eigenes Leben und kann machen, was ich für richtig halte.“ Hafiza möchte den Führerschein machen und hofft auf die Einbürgerung. „Dann könnte ich freier atmen.“ So lebt sie in der Angst, sie könnte doch nach Syrien zurückgeschickt werden. „Dort gibt es niemanden, der mich und meinen Sohn beschützen könnte.“
Ein Ehepaar mit drei Söhnen
Ein Ehepaar, das seinen Namen nicht veröffentlicht sehen möchte, kommt im September 2017 mit seinen drei Söhnen in Kehl an. Die Eltern beginnen sofort mit einem Deutschkurs; nach einem Jahr finden die Mutter und der älteste Sohn Arbeit. Die Mutter ist inzwischen seit mehr als fünf Jahren Erzieherin in einer städtischen Kindertageseinrichtung. Der Vater arbeitet ehrenamtlich. Der zweitgeborene Sohn hat seinen Bachelor in Wirtschaftsinformatik in der Tasche und schließt ein Masterstudium an. Der Jüngste der Familie hat sein Abitur am Wirtschaftsgymnasium gemacht und den Jahrgangsstufenpreis bekommen. Jetzt studiert er Wirtschaftsingenieurwesen.
„Wir werden nicht vergessen, was dieses Land uns gegeben hat. Wir danken Deutschland dafür.“
Olena Prenko
Olena Prenko wäre nie auf die Idee gekommen, die Ukraine zu verlassen. Selbst als die russischen Streitkräfte das Land überfallen, hofft die damals 42-Jährige noch auf ein schnelles Ende des Grauens. Als jedoch eine Granate das Haus trifft, in dem sie lebt, ist ihr klar: „Ich muss gehen.“ Drei Erstaufnahmeeinrichtungen durchläuft sie, bevor sie Baden-Württemberg erreicht.
„Nun lebe ich seit drei Jahren in Kehl und bin diesem Land zutiefst dankbar für die Hilfe und Unterstützung, die ich von Anfang an erfahren habe.“
Und doch war der Anfang alles andere als einfach: Olena Prenko, die in der Mitte ihres Lebens alles verliert, ohne Sprachkenntnisse und ohne Geld von vorne anfangen muss, quält in den ersten sechs Monaten eine tiefe Depression. Es fällt ihr schwer, Deutsch zu lernen und es gibt niemanden, der sie umarmt oder ihr Mut macht. Sie ist Bauingenieuren und Physiotherapeutin, doch es wird ihr geraten, lieber in der Bäckerei oder in der Fabrik zu arbeiten. Sie findet ihre innere Stärke, sucht sich eine Praktikumsstelle, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern, spart mit verschiedenen Jobs Geld, um ihre Berufsabschlüsse anerkennen lassen zu können. Heute plant Olena Prenko Häuser – mit einem Sprachniveau B1. „Viele sagten mir, das sei unmöglich.“ Abends nach der Arbeit lernt sie weiterhin in Online-Kursen Deutsch, um bald die B2-Prüfung ablegen zu können.
„Ich weiß jetzt: Migration ist eine Prüfung. Sie zeigt, wer du bist, was du willst und was du zu tun bereit bist, um dein Ziel zu erreichen.“
Tatjana Dupleva
Auch Tatjana Dupleva geht auf die 40 zu, als sie mit ihren drei Kindern aus dem ukrainischen Kriegsgebiet flieht und in Kehl landet. Nach eineinhalb Jahren spricht sie Deutsch auf B2-Niveau und kann sich ihr Diplom als Umweltwissenschaftlerin anerkennen lassen. Nach einem Praktikum bei der Stadt bekommt sie für eineinhalb Jahre einen Arbeitsvertrag.
„Trotz aller Schwierigkeiten der Integration und der Anpassung an das neue Leben gelingt es mir und meinen Kindern, unseren Alltag Schritt für Schritt aufzubauen. Wir fühlen uns zunehmend als Teil der Gesellschaft, schmieden Pläne und blicken zuversichtlich in eine stabile Zukunft in Deutschland.“
Yelyzaveta Holovakina
Yelyzaveta Holovakina stammt aus Mariupol. Kurz nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine kommt sie nach Deutschland, lernt Deutsch bis auf B2-Niveau und absolviert ein Praktikum bei der BSW Anlagebau- und Ausbildungs-GmbH. Seit dem 1. September macht sie dort eine Ausbildung zur Industriekauffrau und unterstützt das Unternehmen bei Social Media, bei Messeauftritten und Präsentationen. Außerdem hilft Yelyzaveta ukrainischen Kolleginnen und Kollegen, sich bei den BSW zurecht zu finden. Ehrenamtlich engagiert sie sich bei Ausstellungen ukrainischer Künstlerinnen und Künstler im Rahmen von „Art Brave“.
Iryna Panchuk
Iryna Panchuk hat in der Ukraine an philologischen Universität Englisch und Deutsch studiert, was ihr sehr hilft, als sie nach Kriegsbeginn ihr Heimatland verlässt und nach Kehl kommt. Gleich nach ihrer Ankunft bekommt sie eine Stelle am Einstein-Gymnasium. Seit 2022 unterrichtet sie Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund in Deutsch.
„Kehl ist für mich zu einem zweiten Zuhause geworden.“
Liubov Pape
Liubov Pape flieht mit ihrer Tochter Marharyta und ihrem 77-jährigen Vater Ruben vor dem Krieg nach Kehl. In Charkiw hat sie Verwaltungsmanagement studiert und zusätzlich einen Master in Projektmanagement gemacht. In Kehl absolviert Liubov einen Integrations- und einen Berufssprachkurs B2; in Offenburg legt sie die C1-Prüfung ab. Sie arbeitet als Verwaltungsmitarbeiterin beim Institut für Deutsche Sprache Offenburg, ist ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe Kehl und im Dometscherpool aktiv und engagiert sich für „Art Brave“. Sie freut sich, dass „ich jetzt mit meinen Steuern und meiner ehrenamtlichen Tätigkeit etwas zurückgeben kann. Liubov Pape möchte ein Vorbild für Geflüchtete sein und zeigen, dass man sich mit Fleiß und Engagement erfolgreich integrieren kann. Für alle, die auf dem Weg der Integration sind, hat sie einen Rat:
„Es ist nicht einfach, aber wenn ihr wollt, könnt ihr es schaffen. Wenn ihr Hilfe braucht, fragt einfach. Es gibt viele nette und hilfsbereite Menschen und Organisationen in Kehl.“
Integration ist ein langer, schwerer Weg
In den kurzen Beschreibungen ihrer aktuellen Situation wird nur ansatzweise deutlich, dass Integration für Geflüchtete ein langer und schwerer Weg ist. Obwohl alle Familienmitglieder in Deutschland erfolgreich sind, sind für Nariman Suleiman „die Schwierigkeiten und die unzähligen Tage, an denen wir hoffnungslos und traurig waren“, nicht vergessen. Die alleinerziehende Mutter und die fünfköpfige Familie, die ihre Namen nicht nennen möchten, sehen „Hass gegen Syrer und gegen Ausländer“ aufflammen. Trotz aller Bemühungen, Teil der Stadtgesellschaft zu werden, sehen sie sich mit Vorurteilen gegen Muslime konfrontiert.

